Inspirationen für ein agileres Vorgehen

 

Schenken Sie Vertrauen!

Vertrauen Sie anderen, vertrauen Sie sich selbst? Tun Sie es! Gehen Sie mehr ins Risiko, als Sie das üblicherweise tun, und räumen Sie anderen aus Ihrem Stakeholder-Netzwerk reichlich Vertrauen ein. Freilich kein blindes Vertrauen, sondern Vertrauen darauf, dass jeder nach bestem Wissen und Gewissen handelt. Riskieren Sie, enttäuscht zu werden. Durch diese Haltung aktivieren Sie Selbststeuerungsfähigkeiten, Verantwortungsübernahme und Motivation und gewinnen zugleich mehr Zeit und Handlungsspielraum. Lassen Sie Fehler zu, aber bestehen Sie darauf, dass diese als Lerngelegenheit genutzt werden. Tun Sie das auch und ganz besonders im Hinblick auf sich selbst. Sprechen Sie über das, was funktioniert, und auch ganz offen darüber, was nicht funktioniert, probieren und experimentieren Sie, ändern Sie, bleiben Sie offen und bewahren Sie sich ein heiteres Gemüt.

 

Seien Sie mutig!

Mut im agilen Kontext meint nicht das sprichwörtliche Harakiri oder waghalsige Manöver. Vielmehr geht es darum, über seinen eigenen Schatten zu springen; dass Sie sich auch im Angesicht von Widerstand oder Widrigkeiten für eine Sache, einen Menschen oder ein Ziel einsetzen, von dem Sie überzeugt sind. Mut braucht es auch, um Nein zu sagen oder etwas loszulassen. Eine große Herausforderung im Managementalltag ist es, zu priorisieren und Verantwortung abzugeben. Ja zu etwas zu sagen, bedeutet meist, etwas anderes abzulehnen. Mut ist die Voraussetzung für fokussiertes Arbeiten. Mutig sind Sie dann, wenn Sie nicht mit allem anfangen, nicht alles gleichzeitig tun und es nicht jedem recht machen wollen. Mut zum Fokus ist Voraussetzung für agiles Arbeiten.

 

Arbeiten Sie mit Ihren Kunden!

Kundenorientierung ist für viele ein alter Hut. Echte Kundenzentrierung allerdings ist in den meisten Organisationen noch ausbaufähig. In meiner Tätigkeit als Berater begegne ich immer wieder unmittelbar und mittelbar Einstellungen, in denen sich Kundenorientierung als bloßes Lippenbekenntnis offenbart, wo Kunden und deren Bedürfnisse eher als Störfaktoren standardisierter und optimierter Prozesse gesehen werden. Im agilen Verständnis werden Kundenwünsche nicht entgegengenommen, sondern aktiv entdeckt und erfüllt. Nicht inside-out, sondern outside-in; man versucht, sich bewusst in die Situation des Kunden zu versetzen, seine Welt, seine Probleme, seine Wünsche, Sehnsüchte, Bedürfnisse und Gefühle zu entdecken. Das funktioniert nur in einem echten Austausch mit dem Kunden, in den so intensiv wie möglich und so oft wie nötig gegangen wird, um seine Bedürfnisse zu verstehen und die beste Lösung für ihn zu realisieren.

 

Schaffen Sie Transparenz!

Ich erlebe es in meiner Arbeit tatsächlich immer wieder, dass die Geschäftsführung Strategien vor den Mitarbeitenden geheim hält. Das Wissen um die Strategie ist dann eine Art Machtressource, was in der heutigen Zeit natürlich ziemlich anachronistisch wirkt. Ein solches Vorgehen geht häufig mit der entsprechenden Unternehmenskultur einher; man lässt sich schließlich nicht in die Karten gucken. Im agilen Kontext dagegen ist Transparenz unerlässlich, um Eigenverantwortung, Fehlertoleranz und Lernen zu ermöglichen. Dabei geht es aber nicht nur um fachliche Klarheit und um das Teilen von Wissen. Fundamental ist gerade auch die Transparenz im Zwischenmenschlichen: Wie ist die Stimmung im Team? Wie geht es jedem Einzelnen? Welche Bedürfnisse hat jeder? Wo gibt es vielleicht Konflikte? Transparenz ist die unabdingbare Voraussetzung zur Beantwortung der grundlegenden Fragen: Was von dem, was da ist, können wir nutzen? Wie können wir uns gegenseitig unterstützen und voneinander lernen, damit wir unsere Arbeit besser machen und unsere Ziele schneller erreichen können?

 

Fallbeispiele

 

Fallbeispiel Agilität: Prinzipien und Werte

Es ist einer dieser heiß-schwülen Sommertage in Bonn Ende der 1990er Jahre. Einige seriös wirkende Menschen in Geschäftskleidung stehen mit einigen meist jüngeren, eher lässig gekleideten Frauen und Männern in einem provisorisch wirkenden Besprechungsraum. An den Wänden hängen beschriebenes Flipchart-Papier, Ausdrucke von Statistiken und Zettel mit Notizen, auf den Tischen stehen Laptops, Kaffeetassen und Teller mit Essen vom Lieferdienst. Die Beteiligten sind in intensive Diskussionen um Kundenprojekte, Umsatz- und Sachkosten, Produktfeatures und Probleme im technischen Betrieb vertieft.

Wir begegnen hier dem Business-Unit-Team Internet Service Provision, das ich nach meiner Zeit in der Telekom-Konzernstrategie leiten durfte. Unser Auftrag lautete: die Telekom gegen am Markt etablierte Wettbewerber zum führenden Anbieter für Internet-Dienste bei Geschäftskunden zu machen. Von 0 auf 100, oder anders ausgedrückt: ein Umsatzwachstum von einigen zehntausend D-Mark Umsatz im Jahr 1997 auf einen mittleren fünfstelligen Millionenbetrag im Jahr 2001.

Dieses Geschäftsfeld, Anfang 1997 gegründet, war komplett neu, die Produkte und Services waren jedoch bereits – zumindest in PowerPoint – als strategische Zukunft skizziert: Intranet, Extranet, Breitbandzugänge, Internet via DSL oder Mobilfunk und auch internetbasierte Streamingdienste; alles bereitgestellt von der Telekom als dem führenden Internetanbieter. Die Business Unit erhielt eine Art Sonderstatus: »Macht, was ihr für richtig haltet, solange ihr eure Ziele erreicht. Dafür bekommt ihr jede notwendige Unterstützung«, war die Zusage des Top-Managements. Wir gingen mit Begeisterung und höchster Motivation an die Arbeit: Dazu entwickelten wir zusammen mit Kunden Produkte nach dem Prototyping- und Working-Backward-Konzept, verkürzten den Vertriebseinführungsprozess zusammen mit den Kollegen aus Rechnungsstellen, Entstörung und Betrieb von zwei Jahren auf zwei Monate, führten die ersten Intranets in Deutschland mit Topkunden wie BMW oder der Allianz ein, implementierten DSL als neuen Breitbandanschluss zusammen mit T-Online und mobile Datensysteme mit T-Mobile sowie erste Streaming-Angebote mit der Kirch-Gruppe. Wir führten unzählige Gespräche mit internen Kollegen, Kunden, Lieferanten, Wettbewerbern und gaben Vertriebsschulungen. Gleichzeitig spürten wir heftigen Gegenwind aus der traditionellen Organisation, die ihren Kernauftrag im Bereitstellen von Telefonanschlüssen sah.

Parallel bauten wir ein höchst diverses Team auf, in dem Jung und Alt, Technikerinnen, BWLer, Juristinnen, Pädagogen und Soziologinnen genauso vertreten waren wie Beamte und Mitarbeitende von Wettbewerbern oder aus anderen Ländern. Wir schmiedeten viele Pläne und verwarfen sie zugunsten neuer Pläne gleich wieder. Wir machten ebenso viele Fehler, korrigierten diese meist schnell (Start-Stop-Keep). Auf diese Weise gestalteten wir eine sehr steile Lernkurve für unser Team, aber auch für unsere Kunden und unser organisatorisches Umfeld. Im Jahr 2001 hatten wir unsere Ziele weitgehend erreicht, die Telekom hatte die führende Position im Business-Internet-Segment. Und es gab auf Basis unserer Arbeit erste Überlegungen für die Ablösung des Fest- und Mobilfunknetzes durch ein All-Internet-Network (das heute in Betrieb ist).

Aus dieser Zeit habe ich vor allem folgende Dinge gelernt:

  • Die notwendige Veränderung wesentlicher Teile der alten Organisation und Prozesse konnten wir nicht per Dekret oder Fakten, sondern ausschließlich durch Begeisterung im Team für unsere Sache, vielen persönlichen Gespräche, Transparenz, Offenheit und Vertrauensarbeit erreichen.

  • Mit dem Fokus auf immer wieder neue, wenige implementierte, dafür funktionierende und vorzeigbare Produktfunktionalitäten waren wir erfolgreicher als mit umfassenden Releaseplänen, was wir alles noch machen wollen würden und könnten.

  • Die vertrauensvolle, konkrete Einbindung unserer Kunden aus den jeweiligen Produktsegmenten bei der Produktentwicklung brachte uns schneller voran als die von einigen Vertrieblern und AGB-Juristen oft gewünschte vertragliche Kundenbindung und Absicherung durch Abschottung.

  • Wir hatten eine Vision, ein Bild vor Augen. Internet: Anywhere, Anytime, Any Device. Und auch eine Strategie (und sogar einen offiziellen Fake-Fünf-Jahres-Strategieplan für die Unternehmensplanung als brauchbare Illegalität), die jedoch mehr ein grober Zielkorridor als ein Plan war. Aufgrund der Dynamik und Komplexität war konkretes Arbeiten nur auf Sicht möglich, d. h. wir sind explorativ vorgegangen und haben mit Drei-Monats-Planungsintervallen und mit Zielen gearbeitet, die mehr auf Fertigem, Implementiertem, Funktionierendem und weniger auf gemachten Aktivitäten beruhten. Die Strategieumsetzung im dynamisch-komplexen Umfeld funktionierte, weil sie Teil eines eng gekoppelten und immer wieder aufs Neue angepassten Prozesses war.

  • Mit unserer Arbeit als eine Art internes Start-up hatten wir – zum Teil gegen heftigen Widerstand – die sehr traditionelle Kultur und das damit verbundene Geschäftsmodell herausgefordert, gleichzeitig benötigten wir die Kooperation wesentlicher Akteure des Unternehmens für eine erfolgreiche Umsetzung. Grundlegende Änderungen auch in der sehr starren Unternehmensorganisation waren möglich und skalierbar, weil das gewünschte Neue von jedem einzelnen Mitglied unseres Teams begeistert gelebt, aktiv mit Multiplikatoren in der Linienorganisation vernetzt und vor allem nahezu vorbehaltlos vom Top-Management unterstützt wurde.

Heute weiß ich, dass wir damals intuitiv und weitgehend nach agilen Prinzipien und Werten gehandelt haben und erfolgreich waren – ohne bewusst ein einziges agiles Tool zu kennen.

 

Fallbeispiel Agilität: Das Gute im Schlechten

Eine Klientin und Freundin von mir betreibt in Norddeutschland einen Catering- und Event-Service auf dem Land. Mit ihrem Geschäftspartner hatte sie vor einiger Zeit einen Gutshof gekauft und mit viel Aufwand und Liebe zu einer Eventlocation für Hochzeiten, Familien- und Firmenfeste umgebaut. Das Geschäft lief gut; der Betrieb, in dem eine Handvoll Festangestellte und eine Reihe freiberuflicher Servicekräfte tätig waren, war fast ganzjährig ausgebucht.

Der Corona-Lockdown im März 2020 war für das Unternehmen meiner Klientin ein genauso harter Schlag wie für die gesamte Eventbranche. Alle Veranstaltungen mussten abgesagt werden, das Catering-Geschäft lief mehr als schleppend. Zugleich waren Kredite zu tilgen und Mietkosten zu bezahlen, einigen Mitarbeitenden musste gekündigt, andere mussten in Kurzarbeit geschickt werden.

Als ich zufällig während des Lockdowns an dem Gutshof vorbeifuhr, sah ich auf dem Parkplatz mehrere Wohnwagen und Camping-Mobile stehen und war sehr verwundert. Was war geschehen? Später am Tag rief ich meine Klientin an und erfuhr, dass sie aus der Not eine Tugend gemacht und kurzerhand in die Tat umgesetzt hatte, was unter Einhaltung der Hygieneregeln möglich war.

Wenn die Menschen nicht mehr zu Feiern zusammenkommen dürfen, der Urlaub ausfällt und Restaurants geschlossen sind, verschwindet nicht zugleich das Bedürfnis und die Sehnsucht nach Abwechslung oder einem schönen kulinarischen Erlebnis; im Gegenteil. Warum dann nicht, so dachte meine Freundin, den Wohnwagen oder das Camping-Mobil zum eigenen Restaurant machen? Die Idee zum Wohnmobil-Dinner war geboren, mit Schlemmer-Menüs in mehreren Gängen, Candle-Light-Dinner und weiteren Spezial- und Motto-Angeboten als Rundumservice mit Speisen und Getränken direkt zum Wohnwagen oder Camping-Mobil. Man organisierte eine Stromversorgung zum Parkplatz, machte etwas Werbung in den sozialen Medien und das Angebot entwickelte sich zu einem Renner über die Region hinaus. Für die Camper-Community wurde es zu einem absoluten Highlight. Auf Wunsch konnte direkt auf dem Platz übernachtet werden, inklusive Frühstück oder Brunch am nächsten Morgen.

Meiner Klientin ersetzte dieses Modell in der Zeit des Lockdowns nicht ihr reguläres Geschäft, aber es war ein ansehnlicher Ausgleich. Hinzu kamen die viele gute Presse und ein deutlich gestiegener Bekanntheitsgrad, der sicherlich auch nach der Pandemie noch nachhallen wird.

Ich halte dies für ein schönes und einfaches Beispiel, wie sich auf der Basis einer agilen Haltung aus der Not eine Tugend machen lässt.